Viel wichtiger als Wissen ist Erfahrung

STANDARD-Interview mit dem Hirnforscher Gerald Hüther.

Lisa Nimmervoll

Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther über die Suche nach der verlorenen Lust am Lernen, jene zwei Dinge, die die Kinder in der Schule vor allem mitkriegen sollten, und das erfolgreichste Lernmodell der Evolution.

STANDARD: Wenn Sie als Neurobiologe die Schule neu aufsetzen müssten, was würden Sie ändern?

Hüther: Als Neurobiologe kann ich nur sagen, dass das Allerwichtigste, das ein Mensch besitzt, und das die Voraussetzung ist, dass er viel lernt und sich später im Leben zurechtfindet, die angeborene Lust am Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist. Wenn das nicht verginge, würden alle Kinder ganz viel lernen. Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist: Wir sollten alles tun, dass dieser besondere Schatz, nämlich die Lust am Lernen, nicht verlorengeht.

STANDARD: Wie geht das? Sie haben das Schlagwort von der „Gießkanne der Begeisterung“ geprägt.

Hüther: Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung ist, dass das Hirn nicht so funktioniert wie ein Muskel. Das kann man nicht trainieren durch Brainjogging oder stures Auswendiglernen. Damit im Hirn langfristig etwas verankert werden kann, muss das, was man lernen will, unter die Haut gehen. Neurobiologisch heißt das, es muss zu einer Aktivierung der emotionalen Zentren und damit zur Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe im Hirn kommen, sodass das Neugelernte in Form von neuaufgebauten Netzwerken verankert wird. Dann bleibt es lange hängen. Wer einmal Fahrradfahren gelernt hat, vergisst das nie wieder. Die neuroplastischen Botenstoffe, die diese Umbauprozesse in Gang bringen, wirken wie Dünger im Hirn. Dass kaum etwas hängen bleibt, wenn es nicht unter die Haut geht, deckt sich mit Erkenntnissen der Bildungsforscher, wonach wir ein, zwei Jahre nach der Matura nur noch zehn Prozent von dem ganzen Schulstoff wissen.

STANDARD: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Schulen? Hüther: Ich war in Bundeskanzlerin Angela Merkels Expertenrat über die Zukunft des Lernens, darum kann ich klar sagen: Es wird nicht so gehen, dass man über politische Entscheidungen Schulen verändert. Als Folge dieser Erkenntnis haben drei Mitglieder dieser Expertenggruppe die Initiative „Schule im Aufbruch“ gegründet, als Instrument zur Unterstützung von Schulen vor Ort, die eine andere Kultur aufbauen wollen. Auch mehr als 300 Schulen in Österreich sind da dabei. Das heißt, da passiert etwas.

STANDARD: Und was passiert da? Hüther: Das kann ich nicht vorgeben. Ich kann nur sagen: Es wäre günstig, wenn Kinder sich in der Schule gesehen fühlten, wenn man ihnen etwas zutrauen und ihnen Aufgaben geben würde, an denen sie wachsen können. Es wäre auch günstig, wenn Schüler in der Schule die Erfahrung machen könnten, wie schön es ist, wenn sie sich gemeinsam um etwas kümmern könnten. Das alles aber ist in unserem Lehrplan so nicht vorgesehen, weil der dem Bildungsideal des vorigen Jahrhunderts anhängt, dass es um Anhäufung von Wissen im Kopf geht. Das ist obsolet geworden. Das Wissen ist längst in Geräte ausgelagert, und jedes Kind, das sich dafür interessiert, kann in kürzester Zeit die weltweit beste Vorlesung über Fotosynthese finden. Die Vermittlung von Wissen ist nicht mehr das, worauf es ankommt.

STANDARD: Sondern?

Hüther: Jetzt kommt es darauf an, dass man ein Interesse daran hat, sich Wissen anzueignen. Man müsste Kindern helfen, sich das Wissen technisch zu besorgen, wenn sie es nicht haben. Die wichtigere Möglichkeit, sich Wissen anzueignen, besteht aber darin, mit anderen Menschen Wissen auszutauschen, weil Wissen allein einem ja noch nicht hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Viel wichtiger als Wissen ist ja Erfahrung. Da man nun aber nicht allein sämtliche Erfahrungen machen kann, auf die es im Leben ankommt, wäre es wichtig für die Zukunft der Schule, dass Schüler lernen, wie man sich die Erfahrungen anderer Menschen zugänglich macht. Damit ich das kann, muss ich auf andere Menschen zugehen können, dazu brauche ich soziale Kompetenz, und die hat ganz viel mit Mitgefühl und Einfühlungsvermögen zu tun. Schüler sollten in der Schule also vor allem zwei Dinge lernen, nämlich wie viel Freude es macht, wenn man sich Wissen erschließt, und dass es nichts Schöneres gibt, als sich Wissen von anderen Menschen zu erschließen, mit denen ich in eine Begegnung komme.

STANDARD: Ist das ein Plädoyer für eine gemeinsame Schule, in der alle Kinder unterschiedlichster Herkunft miteinander lernen?

Hüther: Ich fühle mich nicht berufen, den Pädagogen zu sagen, wie sie Schule machen sollen. Ich kann als Hirnforscher nur sagen, was im Hirn passiert, und aus diesen Erkenntnissen kann ich doch sehr deutlich ableiten, dass es günstig wäre, wenn Schüler in altersgemischten, jahrgangsübergreifenden Lerngruppen lernen würden. Das ist das erfolgreichste Lernmodell der Evolution: wenn Kinder miteinander spielend die Welt entdeckt haben, und je unterschiedlicher sie waren, desto besser. Außerdem passiert in dem Moment, wo sehr unterschiedliche Kinder gemeinsam lernen, etwas Wunderbares: Sie lernen sich in ihrer Unterschiedlichkeit kennen und wertschätzen. Ziel des Systems homogener Klassen war: oben viele reinzufüllen, um unten ein paar Gute rauszukriegen. Das hat auch funktioniert und wird in 100 Jahren noch funktionieren. Die Frage ist: Trägt uns das noch im 21. Jahrhundert? Können wir uns so viele Verlierer leisten, oder käme es nicht vielmehr darauf an, dass jedes Kind in der Schule die gleiche Chance hat?

STANDARD: Ihre Antwort?

Hüther: Natürlich, jedes Kind hat einzigartige Potenziale, in jedem Kind steckt viel mehr drin, als das, was am Ende daraus wird. In alters- und leistungshomogenen Gruppen passiert vor allem eines: Die Kinder müssen, um sich ihrer eigenen Subjekthaftigkeit überhaupt bewusst zu werden, miteinander in Konkurrenz treten. Genau das, was in altersgemischten Gruppen nie passieren kann, weil die Kinder so unterschiedlich sind, wird in homogenen Gruppen regelrecht gezüchtet: Konkurrenzdenken und mit dem Ellbogen über die anderen herfallen. Die Gesellschaft muss sich im Klaren sein, wenn sie so eine starke Selektion durchführt, dass sie damit bestimmte Kinder und Jugendliche erzeugt, die möglicherweise nicht mehr geeignet sind, im 21. Jahrhundert die Stabilität dieser Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Frage kann kein Hirnforscher entscheiden, auch nicht die Pädagogen. Wir müssen alle miteinander einen Konsens finden, worauf es im Bildungssystem ankommen soll. Was sollen die Kinder in der Schule? Es wird wohl nicht gehen, dass wir Schüler in die Schule schicken, ohne dass wir mit ihnen darüber reden, warum sie dort eigentlich hinsollen.

STANDARD: Warum sollen sie hin?

Hüther: Wenn Sie heute Schüler fragen, warum gehst du in die Schule, sagen die: weil ich muss. Das ist der hirntechnisch größte Blödsinn. Das kann nichts werden. Wenn man das in den Schulen im Aufbruch fragt, dann sagen die zum Beispiel: weil ich die Welt retten will. Oder noch häufiger: weil wir die Welt retten wollen. Dazu müssen wir ganz viel wissen, und das wollen wir in der Schule gemeinsam lernen. Es kommt auf die Sinnhaftigkeit an, die wir offenbar vollkommen verloren haben. Wir können unseren Kindern nicht mehr sagen, warum sie in die Schule gehen sollen, außer dass wir sagen, das musst du machen, damit du Karriere machen kannst. Karriere ist für Kinder kein Antrieb. Mit solchen Aussagen machen wir ihnen bestenfalls Angst, dass sie scheitern können.

STANDARD: Angst, Unbehagen oder ein Gefühl der Überforderung haben jetzt auch viele Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Eltern angesichts vieler Flüchtlingskinder in den Schulen. Was sagen Sie denen?

Hüther: Es ist immer eine Chance, wenn etwas Fremdes oder Neues passiert. Aber wenn das Neue so plötzlich kommt, dass die meisten Menschen darauf nicht vorbereitet sind, und wenn Politiker ihnen noch zusätzlich Angst machen, dann wird es eine Katastrophe, denn dann regiert die Angst in der Schule und nicht mehr die Chance. Es gibt wunderbare Aussagen von Lehrern, die mit verklärtem Blick erklären: Es gibt ja viele Schwierigkeiten, die Schüler bringen viele Probleme mit, sie können kein Deutsch – aber: Diese Kinder wollen so unglaublich gern lernen! Wenn ein Flüchtlingskind so ein Gefühl beim Lehrer auslöst, sagt er indirekt auch, dass er schon seit Jahren bei Kindern das Gefühl hat, die kommen in die Schule und haben die Lust am Lernen schon verloren. So ein Lehrer, der plötzlich fünf Kinder in der Klasse hat, die unbedingt und unglaublich gern etwas lernen wollen, fühlt sich endlich wieder als Lehrer. Das kann die anderen Schüler anstecken. Diese lernbegierigen Flüchtlingskinder können ein Motor werden, ein Treibstoff, mit dem die Lernlust in unsere Schulklassen zurückkehrt. Das wird aber nie passieren, wenn die Schüler die Angst ihrer Eltern vor dem Fremden übernehmen und wir nicht verhindern, dass politische Meinungsmacher ihre Machtpositionen untermauern oder anzustreben versuchen, indem sie Menschen Angst vor Fremden machen.

(Lisa Nimmervoll, 9.11.2015) Gerald Hüther (64), Professor für Neurobiologie, ist am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Göttingen als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Publizierte u. a. „Jedes Kind ist hochbegabt“ oder „Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“. Er war im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunft im Turm“ auf Einladung des Wiener Städtischen Versicherungsvereins in Wien.

Bild: Heribert Corn

Quelle: http://derstandard.at/2000025297218/Hirnforscher-Huether-Viel-wichtiger-als-Wissen-ist-Erfahrung?ref=article

Drucken

Veranstaltungen