Nach dem «Seelenkalender» der Weg ins Offene

Ein Artikel von:Konstanze Brefin Alt

Seit rund drei Jahren taucht in unseren Zusammenhängen im­mer wieder mal der Name Raphael Simcic auf. War es zunächst ein herzergreifendes Lied aus dem Musical «Der Trojanische Krieg», das an einer Delegiertenversammlung im Februar 2016 präsentiert wurde, so folgten ein Jahr später Beispiele aus sei­ner Vertonung des Seelenkalenders Rudolf Steiners, der im November 2017 im Verlag Ch. Möllmann erschien. 2018 nun fand in so manchem Zweig ein Konzert des österreichischen Quintetts Seelenklang statt, das deutlich machte, dass sein mu­sikalischer Seelenkalender sich weiterentwickelt.

Wer ist dieser 24-Jährige, der sich an so ein Thema wagt, und dann auch konsequent weiter daran arbeitet? Anfang Januar sitzt er mir gegen­über und erzählt erst einmal, woher er kommt. «Ich kam als Sohn des slowenischen Dichters und Schriftstel­lers Samo Simcic und einer schweizerischen Waldorfkin­dergärtnerin und Erwachse­nenbildnerin auf die Welt. Zu dieser Zeit waren meine El­tern wohnhaft in Slowenien. Für meine Geburt sind sie im Sommer 1994 extra für drei Monate nach Arlesheim in die Ita Wegman Klinik gefahren. Meine ersten zwei Jahre verbrachte ich in Slowenien. In den Kindergarten kam ich aber in der Schweiz, zunächst in Rheinfelden. Eingeschult wurde ich dann in der Rudolf Steiner Schule Mayenfels, was aber nicht lange gut ging. Ich sollte daraufhin in die Birsecker Steinerschule, aber die Klasse war schon über­füllt. Als Zwischenlösung besuchte ich dann die München­steiner Schule. Und weil kurze Zeit darauf gerade einige Schüler, die in die Steinerschule wechseln wollten, in der Luft hingen, wurde eine Übergangsklasse in der Rudolf Steiner Schule Birseck gebildet. Hier konnte ich ebenfalls eingegliedert werden.»

Sitzleder scheint ihm also nicht mitgegeben worden zu sein. Wie er denn zum Komponieren gekommen sei. «Seit Schulbeginn habe ich Klavier gespielt. Und da muss ich sagen, Johannes Greiner hat mich für die Musik gerettet. Er war mein Klavierlehrer und bis ungefähr zehn habe ich fleissig geübt. Aber dann wurde es mir immer schwerer, ich hatte wenig Freude am Üben. Und so begann ich nach Gehör Melodien aus dem Radio nachzuspielen, Tonfolgen, Klänge auszuprobieren und kam so ins Improvisieren.» Dadurch entwickelte er ein ein gutes «Gespür» für die Kla­viatur und brachte bald schon eigene kleine Melodien mit in den Klavierunterricht. «Johannes Greiner nahm das po­sitiv auf und unterstützte mich – so war meine Unterrichts­zeit zu zwei Dritteln gefüllt mit etwas Spannendem und das Pflichtprogramm auf ein Minimum gekürzt.»

Troja – ein Quellort

Es entstanden zunächst kleine Stücke für Klavier und Gi­tarre, bald auch grössere für Ensemble, Orchester und Chor. In der 11. Klasse stand die Realisation eines Musi­cals an. Zum Thema «Trojanischer Krieg» wurde ein Li­bretto verfasst und der 16-jährige Raphael Simcic schrieb die Partitur. Insgesamt achtmal hat die Klasse das Musical aufgeführt. «Die letzte Aufführung hatten wir kurz vor den Frühlingsferien. Johannes Greiner, damals musikalischer Leiter des Musicals, meinte, eigentlich sollten wir uns jetzt an der kleinasiatischen Küste das richtige Troja anschauen, nachdem wir so in den Stoff eingestiegen sind. Dank des enormen Klassenzusammenhalts sind wir dann tatsächlich für zwei Wochen mit Minibussen in die Türkei gefahren, haben nachts am Strand geschlafen… So etwas war nur mit ihm möglich.»

In dieser Zeit stand die Entscheidung zur Abschlussar­beit in der Zwölften an. Deshalb fragte Johannes Greiner Raphael Simcic auf der Fähre, als sie nach Ancona zurück­fuhren, ob er schon wisse, was er tun wolle. «Mir war nur klar, dass ich was mit Musik machen wollte. Und weil das Musical ja bereits ein sehr anspruchsvolles Projekt war, hatte ich auch den Anspruch, es mit der neuen Arbeit zu toppen. Irgendwie kam das Thema Jahreszeiten auf – Vi­valdi und viele andere Komponisten haben das ja schon gemacht… Dann schlug ich spasseshalber den Seelenka­lender Rudolf Steiners vor. Johannes nickte. Er nahm es ernst und meinte: ‹Das trau ich dir zu. Du kannst das!›»

Kaum zu Hause, vertiefte sich Raphael Simcic ins Stu­dium des Seelenkalenders und in die Publikationen von Friedrich Oberkogler und Hermann Beckh über den Zu­sammenhang der Tonarten mit dem Tierkreis und dem Jahreskreis. «Heute würde ich mich nicht mehr trauen; damals wusste ich genügend und gerade wenig genug, was der Seelenkalender ist, um die Sache anzugehen. Zu­dem riskierte ich ja nicht wirklich was. Wenn es nichts geworden wäre, wäre es in den Annalen der Schule ver­sickert.» In der unwahrscheinlich kurzen Zeit von einem halben Jahr hat er diesen extrem komplexen Zyklus von 52 Sprüchen Rudolf Steiners musikalisch als Abschlussarbeit umgesetzt. Und für die Matura anerkannte das Leonhards- Gymnasium Basel diese Arbeit auch. «Wobei dem Musik­experten 52 Sprüche zu viel waren, weshalb er für die Ma­turarbeit nur vier wollte. Ich hab dann aus jeder Jahreszeit einen Spruch genommen, damit der Zusammenhang be­stehen bleibt.»

Vom Konzept zum Liederzyklus

Basierend auf Friedrich Oberkoglers Konzept, der jedem Tierkreiszeichen eine eigene Tonart zuordnet, hat er den Quintenzirkel auf die Jahreszeiten, die in den Sprüchen antönen, verteilt. «Dur in der ersten Jahreshälfte, Moll in der zweiten. Da es 52 Sprüche sind und Ostern sich immer verschiebt, geht es nicht einfach auf. Da hab ich zunächst einmal die Angabe Rudolf Steiners aufgegriffen, dass immer drei Sprüche in der gleichen Stimmung sind, deshalb habe ich immer drei in der gleichen Tonart, die das dominieren­de Tierkreiszeichen vorgab, gehalten und darin ein Motiv variiert.»

Sehr geholfen haben ihm dabei die Angaben von Fried­rich Oberkogler über die Planeten, die hinter den Interval­len wirken und die Stimmungen dominieren. «Da haben wir die Quart, eine Stimmung, die gerne Nationalhymnen eröffnet oder in Militärmärschen daherkommt; die Quint, das pure Gegenteil, sie wirkt offen, ist luftig, aber nicht sentimental – im Gegensatz zu einer Terz, die gerne ins Persönliche, ins Subjektive driftet. So kann man jedes In­tervall einer Stimmung, einer Farbe zuordnen. Und die Tonart bringt dann noch eine eigene Färbung hinein: C-Dur etwa ist sonnenklar, gradeheraus, wenn man hier mit zu vielen Dissonanzen arbeiten würde, würde das dem Charakter nicht wirklich entsprechen. – So habe ich mich herangetastet an die verschiedenen Stimmungen, an die Aussagen des Textes, und daran, welche Farbe ich jedem Spruch zuordnen würde. Dann ging es darum, wie ich das vom Tierkreiszeichen, von der Tonart und dem Intervall her umsetze. Und das Intervall schliesslich ist der Ort, wo die Sache konkret wird, Form annimmt respektive Klang wird. Deshalb entstand immer zuerst die Melodie, dann wurde der Klavierpart ausgearbeitet.» Und die Melodien der später dazukommenden Wochensprüche hatten natür­lich auch immer Rückwirkungen auf die bereits bestehen­den.

Herausgehoben sind im Liederzyklus die vier Warn­sprüche. Raphael Simcic erklärt: «Da habe ich eher spezi­elle Intervalle wie den Tritonus verwendet, sie sind zwar in der entsprechenden Tonart ihrer umgebenden Melodien, sind aber nicht Teil der Dreiergruppen, übernehmen auch nicht das Motiv. Beim Jahreswechsel und im Sommer blieb dann quasi eine Dreiergruppe übrig; diese beiden Eckpunk­te habe ich als Umbruch je in der Paralleltonart umgesetzt. So ging es auf.»

Die Spiegelung der Sprüche in der Jahreszeit respektive in der Nord- und Südhemisphäre hat Raphael Simcic nicht explizit berücksichtigt. «Aber durch die Dur-Tonart in der ersten Jahreshälfte und die Molltonart in der zweiten wird die Spiegelung im Gegensatz eben doch erlebbar. Mitte Ok­tober 2018 war ich mit dem Quintett Seelenklang mit meh­reren Konzerten unter dem Titel ‹Herbststimmungen im Jahresspiegel› unterwegs. Wir haben die Wochensprüche 29, 50, 24, 3 / 30, 49, 23, 4 – also zwei Jahreskreuze oder Vie­rergruppen – gespielt. Sie wurden zunächst rezitiert, dann gesungen mit Klavierbegleitung und schliesslich spielte das Quintett sie in einem für sie geschriebenen Arrangement – also erst das Wort, dann das Wort mit Musik und schliesslich geht das Wort ganz in die fünfstimmige Musik über.»

Im Quintett wird der «Seelenkalender» ganz Musik

Hinter dem Namen des Quintetts Seelenklang steht natür­lich auch eine Geschichte, die mit Raphael Simcics Kompo­sition des Seelenkalenders zu tun hat. «Als ich nach der Ma­tura aus den Ferien zurückkam, erwartete mich zu Hause die Nachricht, dass da eine Frau aus Wien angerufen hätte. Schon eine Woche später sass ich Irmgard Deissenberger gegenüber, der Gründerin vom Humaneum, einer Privat-universität für Anthroposophie. Anton Kimpfler, ein Freund von Johannes Greiner, der dort Dozent ist, hat ihr meine Partitur mitgebracht. Weil sie in Verbindung stand mit dem Linzer Violonisten Patrick Vida, hatte sie die Idee, dass der Seelenkalender eine gute Sache für ein Streichquintett sein könnte – so würde sich die Komposition weiterentwickeln, sich vom Text emanzipieren und dadurch das Herz noch mehr ansprechen. Mein Besuch in Wien endete mit dem Auftrag, den Seelenkalender für ein Streichquintett zu ar­rangieren.»

Raphael Simcic hat sich dann daran gemacht, Schritt für Schritt die Wochensprüche für fünf Streicher umzuschrei­ben. «Da müssen ein paar Dinge schon anders gegriffen sein, weil die Leichtigkeit des Klaviers nicht da ist und die Stücke länger werden. Damit die Musiker bald auftreten konnten und alle 52 am Stück eh zu lang würden, haben wir eine Auswahl für Winter-, Osterprogramme usw. ge­troffen und noch Musik von Beethoven oder Schubert und anderen dazugenommen. So habe ich zunächst immer nur einen Teil, es waren am Anfang jeweils fünf, umschreiben müssen…»

«Und wie viele sind nun umgeschrieben?», will ich na­türlich wissen. «Das ist genau die Frage, die jedesmal kommt und ich es nie weiss! – Ungefähr dreissig… und es kommen ja im­mer wieder neue dazu.»

«Das heisst, bis in zwei Jahren steht das Streicherarran­gement?»

«Bald gehts in den Endspurt und dann wird es dar­um gehen, eine Gesamtausgabe herzustellen, die alle 52 enthält… Ja, noch rund zwei Jahre…» Hier hält Raphael Simcic einen Moment inne und fährt dann fort: «Ist auch besser so, denn so arbeite ich an dem, was dann auch tat­sächlich gespielt wird. Und ich merke, wie jedes Arrange­ment besser wird. Und weil das Konzept ja steht, verliere ich mich nicht in Einzelschritten, wie mir das zunächst mit ‹Troja› passiert ist.»

Heisst das, dass diese seit sieben Jahren begleitende Ar­beit auch weiterhin Thema sein wird? Raphael Simcic zö­gert: «Weil ich gerne unterwegs bin, habe ich mich schon immer für die sich verändernden Stimmungen im Jahr, für die Jahreszeiten interessiert, und ich denke, dass ich daran weiterarbeiten werde…»

Zunächst aber will Raphael Simcic an der Hotelfach­schule Luzern in gut einem Jahr seine Ausbildung als Hôtelier/Restaurateur HF abschliessen. Wie er denn auf diese Idee gekommen sei? Raphael Simcic lacht: «Bis zur Matura habe ich voll auf die Musikausbildung gesetzt: Musikma­tur, Studienvorbereitung an der Musikakademie. Ich hab dabei einen guten Einblick gewonnen und mit John Mac- Keown einen sehr guten Lehrer gehabt, der tolle Projekte machte und Komponisten und Dozenten eingeladen hat. Es war sehr spannend – und sehr avantgardistisch. Da ich damals vom Tonalen herkam – und das nicht nur wegen der Musicals –, war mir diese Ausrichtung etwas fremd. Ich sah mich nicht, fünf Jahre so zu studieren und dann auch in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Eine Alternative wä­ren Studiengänge in Zürich für Filmmusik gewesen. An­gesichts dieser Perspektive fühlte ich mich dann auch für das Musikschaffen doch unabhängiger und freier, wenn ich erst mal eine Ausbildung angehe, die mir den Lebens­unterhalt sichert. Und es war sicher auch eine Reaktion auf dreizehn Jahre Schule, ich wollte endlich was Praktische­res tun – und mit Gastronomie habe ich am Schluss eine solide Basis, mit der ich viel machen kann und die mir viel Freiraum für die Musik lässt.»

Quelle:
Aus dem Porträt «Nach dem ‹Seelenkalender› der Weg ins Offene» von Konstanze Brefin Alt, «Anthroposophie – Schweizer Mitteilungen», V/2019 e/

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